Musik-Theater-Projekt zum Jahresthema der Essener Kulturinstitute „Schöne Aussichten – Paradiese und Utopien“
Eine Koproduktion der Studio-Bühne Essen und des Aalto-Musiktheaters
Zum vierten Mal haben sich die Freie Szene und städtische Kultureinrichtungen in diesem Jahr unter einem gemeinsamen Thema zusammengefunden. Im Mittelpunkt des diesjährigen Veranstaltungsprogramms „Schöne Aussichten – Paradiese und Utopien“ stehen kulturelle und historische Themen, die sich mit dem Wunsch der Gesellschaft nach Gerechtigkeit, nach optimalen Formen des Zusammenlebens, Ästhetik oder auch einfach den Sehnsüchten und Hoffnungen der Menschen befassen. So vielfältig die Gründe für Utopien in der Menschheitsgeschichte waren, so vielfältig beleuchten die Veranstaltungen die kulturellen, gesellschaftlichen und ökologischen Aspekte. Das Jahresprogramm umfasst aktuell Opern, Theaterstücke, Ausstellungen, Lesungen, Vorträge u. v. m.
Die Studio-Bühne Essen und das Aalto-Musiktheater werden in dem Zusammenhang erstmals kooperieren und unter der künstlerischen Leitung von Sascha Krohn (Spielleiter und Regieassistent am Aalto-Musiktheater Essen) und Marijke Malitius (Spielleiterin und Regieassistentin am Aalto-Musiktheater) gemeinsam ein szenisches Bühnenwerk realisieren. Die musikalische Leitung übernimmt Christopher Bruckmann (Korrepetitor am Aalto-Musiktheater), die Projektkoordination durch die Studio-Bühne Essen verantwortet Kerstin Plewa-Brodam. In dem gemeinsamen Musik-Theater-Projekt „Auftrag Abwicklung Sonnenaufgang“ werden sich Schauspieler und Sänger, professionelle Künstler und Experten des Alltags, Jung und Alt etc. im künstlerischen Miteinander auf Augenhöhe begegnen.
„Der Auftrag“ von Heiner Müller
Drei Abgesandte der französischen Regierung bekommen den Auftrag, die Revolution nach Jamaika zu tragen und die Sklaverei zu beenden. Das Vorhaben scheitert. Danach will man sich bloß noch am Lagerfeuer des romantischen Liedgesangs wärmen: „Nun will die Sonn so früh aufgeh’n“.
Mitarbeiter von Wal-Mart tanzen eine Hymne auf den toten Zerstörer der amerikanischen Innenstädte und singen Kreisler-Liebeslieder. Eine Familie kann sich trotz mehrerer Jobs und viel Einsatz nicht über Wasser halten und haust am Ende im Auto. Nachts werden sie vom Engel der Geschichte besucht.
Immer wieder werden die Klassenprobleme überlagert von aufkeimendem Rassismus und Fremdenhass. Ist das der Weg, den die Arbeiter- und Mittelschicht geht? Statt revolutionärem Potential nur die düstere Anti-Utopie des Rechtsrucks? Volkslieder werden zu völkischen Liedern?
In der Verschränkung von Sprech- und Musikstücken begibt man sich auf die Suche nach der gesellschaftlichen „Abwicklung“, wie sie der US-Amerikaner George Packer für sein Heimatland beschrieben hat. Von Heiner Müller über Gustav Mahler und Georg Kreisler zu Wolfgang Rihm.
Konzeption und Regie: Sascha Krohn, Marijke Malitius
Musikalische Leitung: Christopher Bruckman
Ausstattung/Grafik: Gesa Gröning
Dramaturgie: Christian Schröder
Projektkoordination: Kerstin Plewa-Brodam
MIT: Raphael Baronner, Sebastian Hartmann, Karsten Job, Nina Kassmann, Cornelia Orlow, Marion Steingötter, Linus Twardon, Eduard Unruh und Aless Wiesemann
Dauer: 120 Minuten, eine Pause
Premiere: 07.10.2017
Derniere: 15.10.2017
Spielort: Aula der Folkwang Musikschule, Thea-Leymann-Str. 23, 45127 Essen
Eine Koproduktion der Studio-Bühne Essen und des Aalto-Musiktheaters unterstützt von der Folkwang Musikschule und dem Kulturbüro der Stadt Essen.
Pressestimmen:
Protokoll des Scheiterns
„Gleich zu Beginn türmt sich auf der Bühne der Folkwang Musikschule ein Berg aus reglosen Leibern, der schließlich blinzelnd, tastend, strampelnd und tretend zum Leben erwacht – schon da ist klar, dass ‚Auftrag Abwicklung Sonnenaufgang‘, die erste Kooperation zwischen Aalto-Theater und Studio-Bühne (Regie Marijke Mauritius und Sascha Krohn), auch für den Zuschauer kein bequemer Abend werden soll.
Die Mission ist gescheitert, die drei Abgesandten der französischen Revolution haben ihren Auftrag, auf Jamaika das Ende der Sklaverei herbeizuführen, nicht erfüllen können: Sasportas, Sohn einheimischer Sklaven wurde gehängt, Debuisson, der Sohn von Sklavenhaltern, ist in den Schoß seiner Familie zurückgekehrt, Galloudec, der bretonische Bauer, verfasst sterbend einen Brief an den Auftraggeber, während in Frankreich längst ein gewisser Bonaparte die Macht übernommen hat. Dieses Protokoll des Scheiterns wird vielstimmig vom Darstellerkollektiv zitiert und schließlich mit verteilten Rollen in Rückblenden aufgeführt. Heiner Müllers Stück ‚Der Auftrag‘ ist aber nur der Auftakt zu diesem hochambitionierten Musiktheaterabend.
‚Vielleicht war, was wir für das Morgenrot der Freiheit hielten, nur die Maske einer neuen, schrecklicheren Sklaverei‘ lässt er Debuisson resümieren, und schon tanzt das Kollektiv – jetzt Angestellte einer großen amerikanischen Supermarktkette – den Namen des Arbeitgebers. Übergeleitet durch einen trüben Sonnenaufgang aus Gustav Mahlers Kindertotenliedern, befinden wir uns nun mittendrin im Niedergang der US-amerikanischen Kultur, wie ihn der Journalist George Packer in Form exemplarischer Lebensläufe in seinem Buch ‚Die Abwicklung‘ messerscharf seziert hat. Auf der Bühne werden wir Zeugen der fortschreitenden Verelendung einer amerikanischen Arbeiterfamilie, die schließlich auf dem Parkplatz von Wal-Mart ihr Domizil nehmen muss, während parallel Details aus der Biographie des Unternehmensgründers szenisch vermittelt werden.
Dazu erklingt heiter-bissiger Zynismus aus Georg Kreislers Liederschatz, die düsteren Töne vermitteln Gedichte Heiner Müllers in der Vertonung von Wolfgang Rihm. Schließlich versuchen die eingangs gescheiterten Entsandten der französischen Revolution – erneut vergeblich – das Aufstandspotential der amerikanischen Unterschicht zu heben.
Darstellerisch – das Programmheft verzichtet bewusst auf die Zuordnung von einzelnen Namen – war das durchweg fulminant, dramaturgisch waren die einzelnen Teile dieser mutigen Collage klug aufbereitet und geschickt aufeinander bezogen, eine Utopie (‚Paradiese und Utopien‘ lautet der Titel des übergreifenden Projekts der Essener Kulturinstitute) jedoch wollte sich nicht einstellen. Da halfen das heimelige Absingen der Internationalen gemeinsam mit den Publikum und der – immerhin – geglückte Aufstand gegen den sich zwischenzeitlich diktatorisch gebärdenden Musikdirektor auch nicht.“